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bindegewebseiweißfreies Fleischeiweiß im Fleischeiweiß

Armes Würstchen

Veröffentlicht am 10.08.2014

Haben Sie es auch schon bemerkt? Immer öfter sieht man an Wurstbuden statt der gewohnten Auszeichnung »Currywurst« nun »Dampfwurst mit Curry«. Auf Nachfragen erfährt man vom »Wurstmaxe«, das sei eine Anordnung der Lebensmittelaufsicht. Interessant genug, das mal zu recherchieren.

Es ist verboten, Lebensmittel, unter irreführender Bezeichnung ... gewerbsmäßig in den Verkehr zu bringen.
aus § 17 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b) des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes -LMBG-

Soweit die rechtliche Basis, doch was ist an der Bezeichnung »Currywurst« für eine Currywurst so irreführend? Vielleicht, weil kein Curry drin ist, sondern nur in der Soße? Aber Dampf ist ja auch keiner drin …

Holen wir uns also Rat bei der Lebensmittelaufsicht.

Die Bezeichnung eines Lebensmittels ergibt sich aus Gesetzen, Verord­nungen oder der so genannten Verkehrsauffassung. Die Verkehrsauffassung im Lebensmittelrecht wird durch die so genannten Leitsätze des Deutschen Lebensmittelbuches (erarbeitet von einer aus Industrie, Handel und Behörden zusammengesetzten Kommission), die seit 1965 im Bundesanzeiger veröffentlicht werden, Handelsbrauch sowie Recht­sprechung bestimmt. Die Qualitätsvorgabe für »Currywurst« ist dort nicht bestimmt, sondern ergibt sich aus Berliner Handelsbrauch und Rechtsprechung. Demnach handelt es sich um eine den Leitsätzen entsprechende »Grobe Bratwurst«. Manche Berliner Gewerbetreibende verwenden aber eine billigere Wurst zur Herstellung der Currywurst, nach den Leitsätzen handelt es sich dabei um eine »Berliner Dampfwurst«. Da sie die Qualitätsansprüche der Leitsätze für die »Grobe Bratwurst« nicht erfüllt, darf sie nur unter der Bezeichnung »Dampfwurst mit Curry« angeboten werden. Der Berliner Gewerbetreibende, der seinen Kunden das höherwertige Produkt anbietet, darf es als »Currywurst« in den Verkehr bringen. Der Ber­liner Gewerbetreibende, der »spart«, hat jedoch keinen Anspruch, seinen Kunden dies verschweigen zu dürfen.

Erläuterung eines Mitarbeiters der Lebensmittelaufsicht auf Nachfrage

(zugleich ein gutes Beispiel für die verständliche Darstellung einer diffusen Rechtslage)

Aha, da haben sich also Industrie, Handel und Behörden zusammengesetzt und definiert, was eine Currywurst ausmacht. Wo, bitte schön, waren die Verbraucher? Die Kunden? Wessen Interessen wurden hier wohl vertreten? Ganz sicher die der Industrie und des Handels, aber gewiss nicht die der Verbraucher! Die »Leitsätze für Fleisch und Fleischerzeugnisse« sind eine Mixanleitung für Zutaten, aber keine Ver­brau­cherschutzverordnung.

Unter dieser Prämisse kommt es zu Festlegungen, die im eigentlichen Sinne des § 17 Abs. 1 Nr. 5 b) LMBG wohl irreführender sind als eine landläufige Auszeichnung einer wie auch immer beschaffenen »Currywurst« auf der Preistafel einer Wurstbude. (Andererseits kräht kein Hahn danach, wenn das Kölner Käsebrötchen »halve Hahn« genannt wird.)

Welcher Würstchenkunde kann diesen Unterschied erkennen? Welcher Würstchenkunde weiß, welches der beiden Erzeugnisse das höherwertige ist? Die »Leitsätze« werden seit 1965 regelmäßig im Bundesanzeiger veröffentlicht, doch welcher Würstchenkunde hat den wohl abonniert?

Schauen wir mal rein in dieses Werk:

Grobe Bratwurst

Berliner Dampfwurst

grob entfettetes Schweinefleisch, fettgewebereiches Schweinefleisch, wenn Grundbrät verwendet wird, evtl. auch grob entsehntes Kalb- oder Rindfleisch

grob entsehntes Rindfleisch, sehnenreiches Rindfleisch,  fettgewebereiches Schweinefleisch, Fettgewebe

10 % - 15 % Bindegewebe, bis zu 10% durch Innereien ersetzbar

erbsengroße Körnung (gewolft)

fein zerkleinert

vereinzelt bindegewebige Anteile bis reiskorngroß

nicht umgerötet *

umgerötet

in der Regel in Schafsaitlingen oder Schweinedünndärmen

in der Regel in Schweinedünndärmen oder Rinderkranzdärmen,

nicht in Schafsaitlingen und nicht in Därmen mit einem Kaliber unter 32 mm

geringe Haltbarkeit

bindegewebseiweißfreies Fleischeiweiß nicht unter 8,5%

bindegewebseiweißfreies Fleischeiweiß nicht unter 6 %

bindegewebseiweißfreies Fleischeiweiß im Fleischeiweiß

bindegewebseiweißfreies Fleischeiweiß im Fleischeiweiß

histometrisch nicht unter 65 Vol.-%

histometrisch nicht unter 50 Vol.-%

chemisch nicht unter 75%

chemisch nicht unter 65 %

*) nicht umgerötet = es muss Kochsalz statt Nitritpökelsalz verwendet werden

An keiner Stelle gehen die Leitsätze auf den Geschmack ein, obwohl der doch für den Verbraucher ein wesentliches Kriterium eines Lebensmittels ausmacht. Die Praxis sieht deshalb so aus, dass auch die »Dampfwurst mit Curry« vom Kunden unbeirrt als »Currywurst« bestellt und akzeptiert wird. (Viel interessanter ist in dem Zusammenhang, was südlich des Mains für Geschmacklosigkeiten als »Currywurst« verkauft werden dürfen, aber dort gelten vermutlich andere Leitsätze.) Die Leitsätze sind derart differenziert, dass sie eigentlich nur noch unter Realsatire abgebucht werden können: Allein im Kapitel »Brühwurst« (was der Verbraucher gemeinhin als »Würstchen« bezeichnet) erscheinen 62 Wurstsorten in unterschiedlichen Kategorien, darunter so abenteuerliche Produkte wie Bauernseufzer, Klöpfer, Schüblinge, Wollwurst, Geschwollene oder Treuchtlinger. Aber der Stein des Anstoßes, die Currywurst ist nicht darunter, ist ja auch erst rund 60 Jahre alt. Für sie müssen neben der Leitsätzen auch noch der Handelsbrauch (un­be­stimm­ter Rechtsbegriff, aber in aller Juristenmunde) und die Recht­spre­chung herhalten. Armes Würst­chen!

Interessanterweise darf die VW-Kantine in Wolfsburg ein Machwerk als »Currywurst« verkaufen, in dem das Curry in der Wurst ist, nicht in der Soße. Wenn das nicht irreführend ist ... (Diese Wurst hat sogar eine Teilenummer im Ersatzteilkatalog des VW-Werks - pervers!)

Überhaupt, was einem außerhalb Berlins und des Ruhrgebiets unbeanstandet als »Currywurst« angeboten wird ...

Das wären mal Betätigungsfelder  für die Lebensmittelaufsicht nach § 17 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b) LMBG, aber ausgerechnet in Berlin, wo die Deutungshoheit des Begriffs liegt, zickt man rum.

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