Betriebsblindheit
Als »betriebsblind« bezeichnet gemeinhin die Eigenschaft mancher Zeitgenossen, die Zustände innerhalb der eigenen sozialen Gruppe (»Blase«) als gemeingültig zu erachten. Dabei übersehen sie, dass außerhalb der Blase ganz andere Situationen und Gepflogenheiten existieren.
Solch Unverständnis nebst eingefahrener Denkweisen, unterschiedlicher Ordnungsbegriffe, eigener betrieblicher Vorgehensweisen, die der Empfänger nicht (er)kennt, in der Korrespondenz nieder, sind eine sehr häufig anzutreffende Ursache für die Unverständlichkeit amtlicher Schreiben.
Die vorstehende, mit Ort und Datum zu versehende und zu unterschreibende Erklärung darf nicht in den Wahlumschlag gesteckt werden, in den der – die – Stimmzettel einzulegen sind. Die Erklärung ist vielmehr neben dem Wahlumschlag in den an den Wahlvorstand adressierten Freiumschlag zu legen.
aus einer Briefwahl-Anleitung
Den Verfassern dieser Anleitung war der gesamte Ablauf des Briefwahlvorgangs geläufig und stand ihnen klar vor Augen. Deshalb bemerkten sie auch gar nicht, dass diese Anleitung jedwede Ablauflogik vermissen lässt.
Die erste Schwierigkeit für den Anwender dieser Vorgaben liegt in den beiden unterschiedlichen Umschlägen: Wahlumschlag und Freiumschlag. Der Freiumschlag ist daran zu erkennen, dass er an den Wahlvorstand adressiert ist. Hier ist zu empfehlen, diese Umschläge zusätzlich farblich zu unterscheiden und die Farben in der Anleitung anzugeben. (Wobei darauf geachtet werden muss, dass die Farben auch für Farbsehschwache unterscheidbar sein müssen.)[Aktualisierung: Wird seit einigen Jahren tatsächlich so gemacht.]
Das ist aber nur das geringste Problem. Viel schwerer wiegt, dass die Arbeitsabläufe völlig wirr dargestellt sind und sich deshalb nur schwer nachvollziehen lassen. Bröseln wir die beiden Sätze doch einfach mal in zeitlicher Abfolge auf:
1. Stimmzettel in Wahlumschlag einlegen,
2. Erklärung mit Ort und Datum versehen und unterschreiben,
3. Wahlumschlag in Freiumschlag stecken,
4. Erklärung neben dem Wahlumschlag in den Freiumschlag stecken.
Diese stichwortartige Ablaufbeschreibung lässt sich auch in ganzen Sätzen als Schritt-für-Schritt-Anleitung formulieren:
Stecken Sie die Erklärung bitte auf keinen Fall in den weißen Wahlumschlag!
Im Abschnitt »Geschäftsgang« der Gemeinsamen Geschäftsordnung für die Berliner Verwaltung (GGO I) von 2011 sind alle Arbeiten beschrieben, die mit dem Bearbeiten von Eingängen, dem Fertigen von Verfügungen und dem Absenden von Reinschriften – also mit dem Abarbeiten eines Vorgangs – zu tun haben. Da sollte zu erwarten sein, dass dies strukturiert und ablauforientiert dargestellt ist, doch weit gefehlt.
Es ist nicht ergründbar, welche Kriterien der seit Jahrzehnten gewählten (bewährten?) Reihenfolge zugrunde liegen, aber dem ratsuchenden Bearbeiter erschließen sie sich nicht.
Die Reihenfolge der einschlägigen Paragrafen ist in der Grafik dem Bearbeitungsablauf gegenübergestellt:
Die grafische Darstellung zeigt, dass die einschlägigen Paragrafen bunt durcheinander stehen und nicht in der Reihenfolge des Arbeitsablaufs, wie es sich für eine Arbeitsanleitung gehört, die jener Abschnitt der GGO ja zweifelsohne sein soll. Selbst der Name »Geschäftsgang« weist darauf hin.
Exemplarisch seien wegen der »Doppelschleife« die vorletzten Zeilen des Ablaufplans näher erläutert:
Eine Reinschrift kann erst unterzeichnet oder beglaubigt werden (§ 57), wenn sie gefertigt ist (§ 58). Der Zusammenhang von Fertigung und Absendung in § 58 ist aber durch das Unterzeichnen und Beglaubigen aus § 57 unterbrochen, deshalb gehören die beiden Arbeitsgänge nicht zusammen. Sinnvoller wäre es, entweder beide Paragrafen ein einem (»Reinschriften«) zusammen zu fassen und intern ablauforientiert zu gliedern oder daraus drei Paragrafen in richtiger Abfolge zu machen:
fertigen → unterschreiben oder beglaubigen → absenden
In dieser den tatsächlichen Abläufen nicht angepassten Gliederung ist einer der diversen Gründe für den Mangel an Verständnis gegenüber der GGO und den immensen Schulungsbedarf zu sehen. Man muss bedenken, dass diese Arbeitsanweisung nicht nur von »gelernten Beamten« zu beachten ist; im öffentlichen Dienst arbeiten weit mehr Quereinsteiger als Menschen mit Verwaltungsfachausbildung. Allerdings wird dieses Handicap von der federführenden Senatsverwaltung für Inneres, die fast ausschließlich aus Verwaltungsfachleuten und Juristen besteht, wohl gar nicht erkannt.
Der Titel dieses Beispiels setzt sich aus zwei ironisch zusammengefassten Meldungen zusammen.
Bereits seit 1997 sind Mobbing und sexuelle Belästigung in München zwingende Inhalte der Führungskräfteschulungen.
aus KGSt-INFO 10/2001
Wir wollen in dieser Legislaturperiode in allen Bezirken die Zahl der Bürgerämter auf mindestens 60 erhöhen.
aus der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und PDS Berlin 2001–2006
In beiden Beispielen ist eine enge Verbindung mit der eingefahrenen Denkweise zu erkennen, denn die Intention der Autoren wird dem Leser schnell klar, weil die tatsächlichen Aussagen beider Zitate zu absurd sind. Es gibt keine Kurse, in denen man Mobbing und sexuelle Belästigung lernt, sondern Prävention gegen Mobbing. Ebenso hatte gewiss niemand vor, Berlin mit 720 Bürgerämtern zuzupflastern.
Dennoch hätte man die Stutzeffekte durch hinreichende Überlegung schon beim Schreiben vermeiden können. Und leider ist es eben nicht immer so deutlich zu erkennen, dass sich ein Autor einfach nur undeutlich ausgedrückt hat, weil er sein Ziel »zu klar« vor Augen hatte.
Auch in »klassischen« Gesetzestexten finden sich solche Stilblüten:
Hält sich eine Partei an einem Ort auf, der durch obrigkeitliche Anordnung oder durch Krieg oder durch andere Zufälle von dem Verkehr mit dem Prozessgericht abgeschnitten ist, so kann das Gericht auch von Amts wegen die Aussetzung des Verfahrens bis zur Beseitigung des Hindernisses anordnen.
§ 247 ZPO
Der Gesetzgeber muss ja eine hohe Meinung von der Effektivität seiner Exekutive haben, wenn er deren Aktivitäten mit Zufällen gleichsetzt. Natürlich ist das nicht beabsichtigt gewesen, es handelt sich um eine bloße vergleichsfreie Aufzählung von Tatbeständen, doch die Wortwahl legt diesen satirischen Schluss nahe, besonders durch das Wort »andere«, das hier schadlos entbehrlich ist.
Schon lange vor Richard David Precht schaffte es ein Verwaltungsmitarbeiter, diese Sinnfrage einem Leistungsempfänger nahezulegen.
Wir haben festgestellt, dass zu Ihrem Haushalt ausschließlich Familienmitglieder rechnen, denen Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAFöG) dem Grunde nach zustehen.
aus einem Widerspruchsbescheid eines Wohnungsamtes
Wie viele Mitglieder zählt die von diesem Bescheid betroffene Familie wohl?
Da der Plural verwendet wird, müssen es wohl mindestens zwei sein, vielleicht sogar eine Großfamilie.
Der Bescheid ging jedoch an eine allein lebende Studentin! Korrekt wäre also gewesen:
Wir haben festgestellt, dass Ihnen Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAFöG) dem Grunde nach1 zustehen.
Berücksichtigt man bei der Umformulierung die weiteren sprachlichen Unzulänglichkeiten des Ursprungssatzes, reduziert er sich auf ein simples und verständliches:
Ihnen stehen dem Grunde nach Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAFöG) zu.
1 An dieser seltsamen Formulierung »dem Grunde nach« lässt sich leider nichts ändern, weil das eine festgefügte juristische Bedingungsformel ist. Im zitierten Bescheid erscheint diese Formulierung übrigens insgesamt fünf Mal auf einer halben Seite!
Eine ganz banale Ursache für seltsame Formulierungen liegt in unser aller Schulzeit begründet. Damals ist uns eingebläut worden, dass Sätze niemals mit »Ich« begonnen werden sollen.
So eine in früher Kindheit dressierte Vorgabe sitzt tief und beeinflusst unser Denken erheblich. Deshalb greifen wir in unserem Schriftverkehr häufig zu umständlichen Formulierungen, statt den Satz einfach mit »Ich« zu beginnen und ihn damit klar verständlich zu halten.
Was für »Ich« gilt, gilt grundsätzlich auch für »Wir«, doch irgendwie ist es leichter, ein »Wir« an den Anfang zu stellen, man ist dann nur ein Esel unter vielen. Wo allerdings im Schriftverkehr die »Ich«-Form vorgeschrieben ist, blühen die bunten Wiesen der Ich-Vermeidung.
In Änderung des bisherigen Verfahrens wird geregelt, dass der Schriftverkehr der Behörden in der »Ich-Form« erfolgt. Damit wird der Bearbeiter in den Mittelpunkt des Verwaltungshandelns gestellt und dies auch nach außen verdeutlicht. Durch Abgehen vom anonymen »Wir« tritt der Bearbeiter dem Bürger direkt gegenüber; er bleibt aber in seiner Funktion Mitarbeiter der jeweiligen Behörde.
Senatsvorlage zur GGO I Berlin; Begründung zu § 47
Es ist ja schön, dass der Mittelpunkt des Verwaltungshandelns nach außen verdeutlicht wird, doch hilft das bei der Verständigung mit den Bürgern nicht viel, wenn gerade deswegen wieder komplizierte Umschreibungen und Passiv-Formulierungen verwendet werden. Neben den berühmten holprigen Einleitungsfloskeln wie »Auf Grund von § … habe ich entschieden, …« oder »Zu Ihrem Schreiben vom … teile ich Ihnen mit, …« kann der Versuch, den »Esel voran« zu vermeiden, auch Blüten treiben:
Während der gesamten Laufzeit des Verfahrens bitte ich Sie, jede Änderung Ihrer Einkommensverhältnisse, Ihres Familienstandes und Ihres Wohnortes unverzüglich mitzuteilen.
aus einem Bescheid einer Einbürgerungsstelle
Der Absender bittet und bittet und bittet immer wieder, so lange, bis das Verfahren endlich abgeschlossen ist. Vielleicht könnte es schneller abgeschlossen werden, wenn er nicht so viel Zeit darauf verschwenden würde, ständig zu bitten? Spaß beiseite: Bei Missachtung der fast schon im archaischen Bewusstsein verankerten Esel-Regel hätte sich der Satz viel einfacher und deutlicher formulieren lassen:
Ich bitte Sie, mir jede Änderung Ihrer Einkommensverhältnisse, Ihres Familienstandes und Ihres Wohnortes während der Laufzeit des Verfahrens unverzüglich mitzuteilen.
oder, sogar ohne »ich«:
Bitte teilen Sie mir jede Änderung Ihrer Einkommensverhältnisse, Ihres Familienstandes und Ihres Wohnortes während der Laufzeit des Verfahrens unverzüglich mit.
Aktenzeichen sind das Ordnungskriterium von Behörden und Gerichten. Ohne sie ist das Auffinden eines Vorgangs erschwert, weshalb auch immer im Schriftverkehr darauf hingewiesen wird, unbedingt bei Antworten das Aktenzeichen anzugeben.
Soweit, so grün! Aber: Aktenzeichen begegnen uns auch in Form »angewandter Verwirrtechnik«, wie die folgenden Beispiele zeigen:
Sehr zur Unklarheit beitragend ist es, wenn innerhalb eines Verfahrens mehrfach die Geschäftszeichen wechseln; bei Gerichten übrigens Geschäftsnummer genannt, selbst dann, wenn Buchstaben darin vorkommen.
Wenden wir noch einmal unsere Aufmerksamkeit dem Fallbeispiel mit der Autoversicherung zu. Dort ist schon erläutert, wie er besser lesbarer wird, aber immer noch nicht gut lesbar.
Kraftfahrtversicherung
Weiterer Vertrag: 12/076540—B
Sehr geehrter Herr Dingskirchen,
wegen der Überschneidung der Zulassungszeiten hatten wir Ihrem Antrag entsprechend für Ihren PKW B‑BB 999, einen Zweitvertrag unter 12/140976—V erstellt. Infolge der uns eingereichten Erklärung gemäß Tarifbestimmung Nr. 26 Abs. 5 haben wir den Rabatt für Schadenfreiheit ab 14.09.07 von 12/076540—B auf 12/140976‑V übertragen.
Ihren Vertrag 12/076540—B mußten wir deshalb ab 14.09.2007 in die SF—Klasse 1/2 = 125 % einstufen. Hierfür wurde der anteilmäßige Unterschiedsbeitrag von der SF—Klasse 5 = 60 % zur SF—Klasse 1/2 = 125 % irrtümlich bis zur nächsten Fälligkeit, dem 12.10.07, statt nur bis zur Ummeldung des Fahrzeuges am 20.09.2007 berechnet.
Dieser Textauszug reicht für das darzustellende Thema.
Besonders irritieren die Zahlenwürmer der Vertragsnummern. Gewiss, die Vertragsnummer ist das Ordnungskriterium bei einer Versicherung, doch dem Versicherungsnehmer sagt sie nichts. Für ihn sind im vorliegenden Fall der Fahrzeugtyp und das Fahrzeugkennzeichen maßgeblich. (Genau genommen unterscheidet er noch subtiler, nämlich nach »altes Auto« und »neues Auto«, aber so stark kann ein Bescheid natürlich nicht abstrahiert werden.)
Allein der Ersatz der Versicherungsscheinnummern durch die Autokennzeichen macht das Schreiben leichter verständlich:
Kraftfahrtversicherung
Verträge: 12/076540–8 (Fahrzeug B‑GG 555), 12/140976‑V (Fahrzeug B‑BB 999)
Sehr geehrter Herr Dingskirchen,
wegen der Überschneidung der Zulassungszeiten hatten wir Ihrem Antrag entsprechend für Ihren PKW B‑BB 999 einen Zweitvertrag unter 12/140976‑V erstellt. Infolge der uns eingereichten Erklärung gemäß Tarifbestimmung Nr. 26 Abs. 5 haben wir den Rabatt für Ihr bisheriges Fahrzeug B‑GG 555 auf Ihr neues Fahrzeug B‑BB 999 übertragen.
Ihren Vertrag für B‑GG 555 mußten wir deshalb ab 14.09.2007 in die SF-Klasse 1/2 = 125 % einstufen. Hierfür wurde der anteilmäßige Unterschiedsbeitrag von der SF-Klasse 5 = 60 % zur SF-Klasse 1/2 = 125 % irrtümlich bis zur nächsten Fälligkeit, dem 12.10.2007, statt nur bis zur Ummeldung des Fahrzeuges am 20.09.2007 berechnet.
Ein legitimer Ansatz zur Vereinfachung der Arbeit ist: »Wir hatten da doch etwas, was so ähnlich war …« Schon wird der ähnliche Vorgang heraus gesucht und angepasst – leider nicht immer ausreichend. Ein paar Spezifikationen des aktuellen Vorgangs passen denn doch nicht zum Muster, aber das wird (auch aus Betriebsblindheit) leicht überlesen.
Gern passiert so etwas bei der Übernahme vorhandener Formulare auf neue Sachverhalte. Ein Präzendenzfall ist der verlinkte und kommentierte Fragebogen, der sich in anderen Sachverhalten schon bewährt hatte, aber so gar nicht zu den Eigenarten der neuen Zielgruppe passte.
Wer versäumt, sich mit den Besonderheiten eines Falls auseinanderzusetzen, darf sich nicht wundern, wenn die Antworten nicht auswertbar sind.
Der rechts verlinkte Fragebogen zeigt einen besonders krassen Fall, bei dem Zielgruppe und Fragestellung auseinander klaffen.
Mich belastet die Abhängigkeit … nie selten manchmal häufig sehr häufig
… vom Arbeitstempo der Kolleginnen/Kollegen O O O O O
… vom Arbeitstakt der Maschinen O O O O O
aus einem Fragebogen der BKK Essen
Die Frage nach dem Arbeitstakt ist unzweifelhaft, wenn dieser Fragebogen in Industriebetrieben mit Fließbandarbeit eingesetzt wird. Daher stammt der Fragebogen auch, er ist sehr umfangreich (7 Seiten) und hat sich in der Vergangenheit so gut bewährt, dass er immer wieder als Vorlage verwendet wird.
Leider unterlief den Verantwortlichen der Fehler, diesen Fragebogen auch in einem reinen Verwaltungsbereich einzusetzen. Obwohl ca. acht Monate (!) lang zwischen Organisatoren der Umfrage und Personalrat über den Inhalt des Fragebogens gestritten wurde, fiel diese Frage nicht auf.
Nun kann man natürlich pragmatisch sagen, dass es im Verwaltungsbereich keinen Arbeitstakt gibt, deshalb hier also »nie« anzukreuzen wäre. Spitzfindig gedacht allerdings gibt es sehr wohl auch an Büroarbeitsplätzen Arbeitstakte von Maschinen, denn kaum ein Büroarbeitsplatz verfügt heute nicht über einen Computer. Und dessen Arbeitstakt belastet schon, allerdings in völlig anderer Weise als es von den Erfindern dieses Fragebogens gedacht war: Die in der öffentlichen Verwaltung übliche Uralt-Technik führt dazu, dass man häufig blöd auf den Bildschirm starrt, weil die schlechte Hardware den Anforderungen der anspruchsvollen Software wieder mal nicht gerecht wird und so das »Antwortzeitverhalten« zur Zumutung gerät. Richtige Antwort in diesem Fall also: »häufig« bis »sehr häufig«.
Auch die Frage nach der Belastung durch das Arbeitstempo der Kolleginnen und Kollegen ist ambivalent: Sowohl deren zu schnelles als auch zu langsames Arbeitstempo können die eigene Arbeit beeinflussen und zu Stress führen. Beide Fragen sind nicht seriös auswertbar, weil nicht erkennbar ist, aus welcher Perspektive die Antworten angekreuzt wurden.
Da die Fragebogen streng anonym ausgewertet wurden, war ein Nachfragen im Einzelfall nicht möglich.
Zur sinnvollen Auswertung dieser Fragen hätte also jeweils eine Ergänzungsfrage gehört, aus der hervorgeht, wie die Antworten zu werten sind. Die aber fehlte, weshalb das Ergebnis nicht auswertbar blieb.
(Weitere Erörterungen zu diesem Fall finden Sie im Skript »Formulare gestalten«.)
Können wir eigentlich davon ausgehen, dass der Empfänger unserer Korrespondenz alle Informationen besitzt, die wir bei ihm vermuten? Wohl kaum, dennoch unterstellen wir das häufig und erwarten, dass die Bürger Sachverhalte verstehen, die sie wegen fehlenden Hintergrundwissens gar nicht verstehen können.
Hierzu der Abwechselung halber ein Beispiel aus dem technischen Bereich:
Symptom Mögliche Ursache Lösung
Die Tastatur Die Tastatur Schließen Sie die
funktioniert nicht. ist nicht richtig Tastatur richtig an.
angeschlossen.
aus einer Computer-Bedienungsanleitung
Diese »Lösung« ist ja überaus hilfreich. Woraus resultiert denn das falsche Anschließen der Tastatur? Doch sicher aus der Unkenntnis über den richtigen Anschluss. Der Rat suchende Kunde dürfte sich angesichts dieser »Hilfestellung« veralbert vorkommen.
Im Bewusstsein, dass der Empfänger evtl. Informationsdefizite hat, wird ihm die notwendige Information zwar gegeben, jedoch in einer eigenwilligen Form: Dem Empfänger wird bei der Erteilung der Information unterstellt, über dieses Wissen bereits verfügen zu müssen. Sehr beliebt sind Formulierungen der Art »Wie Sie wissen, …«. Manchmal wird diese Unterstellung noch unterfüttert für nähere Erklärungen, woher der Empfänger etwas wissen müsste, zum Beispiel »aus der Tagespresse« oder noch verwegener in diesem Beispiel:
Wie Sie spätestens seit der Diskussion im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Förderung der Selbständigkeit wissen, unterliegen Sie mit Einkünften aus Ihrer Tätigkeit als freier Mitarbeiter/Honorarkraft grundsätzlich der Rentenversicherungspflicht.
Eröffnungssatz aus einem Schreiben der Verwaltungsakademie Berlin an freiberufliche Dozenten
Gar nichts muss der Empfänger wissen! Das Behördenschreiben soll ihn über einen Sach- oder Rechtsverhalt aufklären. Wüsste er darüber schon Bescheid, bedürfte es dieses Schreibens ja wohl nicht. Und dann noch dieser Vorwurf »spätestens« – als hätte man etwas ohnehin schon wissen müssen, aber nun erst recht!
Was ist der Hintergrund solcher Formulierungen? Der Empfänger soll in die Defensive gedrängt werden. Zwischen den Zeilen steht: »Du nachlässiger Bürger hast dich schlecht informiert, aber ich, dein Amt, werde dir schon auf die Sprünge helfen!« Damit werden beim Empfänger unterschiedliche Reaktionen ausgelöst: Entweder duckt er sich, weil er sich in seiner (von der Behörde unterstellten) Nachlässigkeit ertappt fühlt, oder er muckt auf, weil er gar nicht einsieht, dass er sich hätte informieren müssen, weil ihm der Bezug auf seine Person überhaupt nicht bekannt war.
Beide Reaktionen sind aber nicht erwünscht; eigentlich wollen wir ja die Kooperation des Bürgers. Darum muss auf derartige provokante Belehrungen verzichtet werden. Belehren ja, aber nicht mit unterschwelliger Schuldzuweisung. Das obige Beispiel könnte also lauten:
Auf Grund des neu erlassenen Gesetzes zur Förderung der Selbständigkeit unterliegen Sie mit Einkünften aus Ihrer Tätigkeit als freier Mitarbeiter/Honorarkraft eventuell der Rentenversicherungspflicht.
Beachten Sie auch die Feinheit des Unterschiedes zwischen grundsätzlich und eventuell!
Was man weiß und was man wissen sollte, wird sogar im § 166 BGB geregelt:
(1) Soweit die rechtlichen Folgen einer Willenserklärung durch Willensmängel oder durch die Kenntnis oder das Kennenmüssen gewisser Umstände beeinflusst werden, kommt nicht die Person des Vertretenen, sondern die des Vertreters in Betracht.
(2) Hat im Falle einer durch Rechtsgeschäft erteilten Vertretungsmacht (Vollmacht) der Vertreter nach bestimmten Weisungen des Vollmachtgebers gehandelt, so kann sich dieser in Ansehung solcher Umstände, die er selbst kannte, nicht auf die Unkenntnis des Vertreters berufen. Dasselbe gilt von Umständen, die der Vollmachtgeber kennen musste, sofern das Kennenmüssen der Kenntnis gleichsteht.
Moment mal, bitte! Wovon habe ich Kenntnis und wovon muss ich Kenntnis haben? Das Kennenmüssen (tolles Wort, steht weder im Duden noch im Wahrig) steht gemäß Absatz 2 der Kenntnis gleich. Wie soll das gehen? Wenn Kennenmüssen der Kenntnis gleichsteht, warum gibt es dann überhaupt noch einen Unterschied? Dann könnte man auf den Begriff des Kennenmüssens doch völlig verzichten, denn er ist wohl ein Synonym von Kenntnis. Halt – Trugschluss! Da steht ja »sofern«. Also stehen Kenntnis und Kennenmüssen nicht immer gleich. Aber wann tun sie es und wann nicht? Darüber schweigt sich Gesetzgeber aus. Aus gutem Grund vermutlich, wenn man die Kategorisierung anwendet. Bei der Schaffung des Gesetzes wollte man wohl vorausschauend eine Generalexkulpation einbauen.
In manchen Behördenschreiben sind Vorgaben oder vermeintlich hilfreiche Hinweise enthalten, die sich dem Bürger nicht erschließen.
Aktenzeichen der Verwaltungsbehörde: 34.654321.4
Postgebühren für die förmliche Zustellung: 5,60 EUR
Im gerichtlichen Bußgeldverfahren sind die oben genannten Postgebühren für förmliche Zustellungen gemäß Anlage 1 zu § 11 GKG, Nr. 9002 des Kostenverzeichnisses, entstanden.
Dieser Betrag wird der Verwaltungsbehörde zur Einziehung mitgeteilt (Nr. 6.2.1 Anlage AV § 59 Landeshaushaltsordnung).
Sie werden hierdurch aufgefordert, den oben genannten Betrag zusammen mit der Forderung der Verwaltungsbehörde in der im Bußgeldbescheid bestimmten Weise an die dort angegebene Kasse zu bezahlen.
Die Zahlung darf also nicht an das Gericht oder die Justizkasse erfolgen.
Vordruck Owi 76 des AG Tiergarten
Bei diesem Schreiben erschließt sich der Inhalt schwer bis überhaupt nicht. Größtes Problem ist der fehlende Bezug zum eigentlichen Vorgang. Angegeben ist ein Aktenzeichen der Verwaltungsbehörde, ein kryptisches Ordnungsmerkmal jener Behörde, die einen Bußgeldbescheid erlassen hatte. Dieser Bußgeldbescheid war vor Gericht verhandelt worden und nun macht das Gericht seine Porto-Auslagen geltend. Ob der (unbedarfte) Empfänger das wohl versteht? Der Absender weiß, worum es geht, aber anhand welcher Kriterien soll der Empfänger dieses Schreiben zuordnen? Zumal er es ja nicht unbedingt zeitnah erhalten muss. Oft sind seit der Verhandlung schon Wochen verstrichen und das Bußgeld schon bezahlt, der Vorgang für den Bürger also ad acta gelegt. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor sind die wenig hilfreichen Verweise und Floskeln:
wird der Verwaltungsbehörde zur Einziehung mitgeteilt
Ja, bitteschön, sollen sie doch der Verwaltungsbehörde mitteilen, was sie wollen, was interessiert das den Betroffenen?
Jedoch: Die Verwaltungsbehörde wurde aufgefordert, die Kosten einzutreiben. Mitteilen ist etwas anderes als auffordern, also trifft dieser Begriff überhaupt nicht zu.
in der im Bußgeldbescheid bestimmten Weise
Wie viele Varianten der Zahlungsweise mag es wohl geben?
an die dort angegebene Kasse
Was hindert das Gericht, hier konkret zu anzugeben, an welche Kasse zu zahlen ist? Dieser Hinweis könnte dem Empfänger auch evtl. helfen, die Verwaltungsbehörde zu erkennen.
Bei etwas mehr Orientierung am Empfänger könnte das Formular wie folgt lauten:
Am _____________haben Sie in der Verhandlung Ihren Einspruch gegen den Bußgeldbescheid des _______________________________(Aktenzeichen: ______________________vom __________wegen _____________________________zurückgezogen.
Für das Verfahren sind der Justizkasse Auslagen für Porti in Höhe von 5,60 € entstanden. Gemäß Anlage 1 zu § 11 des Gerichtskostengesetzes, Nr. 9002 des Kostenverzeichnisses, sind Sie verpflichtet, diese Kosten zu erstatten.
Um das Verfahren zu vereinfachen, ist diese Erstattung gemeinsam mit dem Bußgeld an die
O Landeshauptkasse O Bezirkskasse ______________
zu zahlen. Sollten Sie das Bußgeld und die vom LPVA erhobenen Nebenkosten bereits beglichen haben, überweisen Sie die Portoerstattung mit denselben Angaben wie das Bußgeld ebenfalls an die Landeshauptkasse/Bezirkskasse.
(Überweisen Sie bitte nicht an die Justizkasse!)
In diesem Formular wäre allerdings etwas mehr auszufüllen als im Original. Diese zusätzliche Arbeit würde jedoch aufgefangen durch einen Rückgang der Nachfragen verständnisloser Empfänger, denn:
Nachfragen bei Kursteilnehmern aus den einschlägigen Einrichtungen ergaben, dass dieser Vordruck von jeher eine Nachfragequote von rd. 70 % hat! Da bereits 30 bis 40 % Nachfragen dringenden Anlass zu Verfahrensverbesserungen signalisieren, hat hier die Berliner Justiz offensichtlich seit Jahren gemütlich geschlafen.
Grob geschätzt, würde sich angesichts der hohen Nachfragequote die Überarbeitung des Formulars spätestens nach einem Jahr amortisieren.
Jedoch: Zum Zeitpunkt meiner Ermittlungen fühlte sich dort niemand zuständig. Deshalb vermute ich mal, dass sich daran nichts geändert hat.