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Amtssprache:Ursachen

Juris­ti­sche Interpretationsfreude

Es ist schon verblüf­fend: Einer­seits bemüht sich »der Gesetz­ge­ber«, jede noch so banale Vorschrift so genau und präzise durch­zu­for­mu­lie­ren, dass nur kein noch so abwe­gi­ger Sonder­fall unbe­rück­sich­tigt bliebe. Das deutet auf eine sehr den Vorschrif­ten verhaf­tete Recht­spre­chung hin. Ande­rer­seits aber sind Juris­ten stän­dig bemüht, in die vorhan­de­nen Vorschrif­ten hinein zu inter­pre­tie­ren, was »der Gesetz­ge­ber« damit wohl gemeint haben möge. 

Auf die Idee, »den Gesetz­ge­ber« nach seinen Inten­tio­nen zu fragen, kommt niemand – eher noch fragt die Legis­la­tive die Judi­ka­tive, ob das, was sie vorha­ben oder bereits verab­schie­det haben, korrekt ist, verdrehte Welt!

So betrach­tet, hat es auch gar keinen Zweck, wenn sich Verwal­tungs­mit­ar­bei­ter am Geset­zes­text orien­tie­ren, denn der ist ja inter­pre­tier­bar. Damit ist gera­dezu präju­di­ziert, dass die Verwal­tung zwischen geset­zes­text­ori­en­tier­tem und inter­pre­ta­ti­vem Verhal­ten zermah­len wird.

Sehr aufschluss­reich ist das folgende Zitat aus einer Infor­ma­ti­ons­ver­an­stal­tung zu einer neuen Rechtslage:

Wir haben dazu noch keine Präze­denz­fälle vor Gericht gehabt, deshalb können wir die gericht­li­che Praxis noch nicht einschät­zen; dafür ist das Gesetz noch zu neu.

Damit offen­bart sich eine Ausweg­lo­sig­keit, die nicht mit der Theo­rie der Gewal­ten­tei­lung über­ein­stimmt. Grund­lage des Verwal­tungs­han­delns ist das Gesetz. Im hiesi­gen Rechts­sys­tem gibt es das Instru­ment des Präze­denz­falls nicht. Legis­la­tive, Exeku­tive und Judi­ka­tive treten in Konkur­renz bei der Ausle­gung und Anwen­dung der Vorschrif­ten. Das ist nach rechts­staat­li­chen Prin­zi­pien zwar durch­aus gut so, aber sich selbst zu lähmen und erst mal abzu­war­ten, kann nicht die Prämisse einen effek­ti­ven und effi­zi­en­ten Verwal­tung sein.

Juris­ti­sche Gutach­ten, egal ob vom Anwalt oder Justi­zia­riat, sind nie eindeu­tig. In Aner­kennt­nis der Unab­hän­gig­keit der Rich­ter (oder, wie böse Zungen sagen: der Unbe­re­chen­bar­keit) wird jede noch so toll recher­chierte und formu­lierte Stel­lung­nahme zu den Aussich­ten, ein Verfah­ren zu gewin­nen, spätes­tens am Schluss einen Hinweis enthal­ten, dass das alles natür­lich ohne Gewähr ist.

Konkret ausge­drückt: Die Stel­lung­nahme ist das Papier nicht wert!

Da inter­pre­tie­ren Anwälte oder Justi­tiare eine Sach­lage und die dazu einschlä­gi­gen Vorschrif­ten, wissen aber, dass die entschei­dende Instanz das auch ganz anders inter­pre­tie­ren kann. Was soll das? Sind wir hier im Deutsch­un­ter­richt, wo die Schü­ler damit gegän­gelt werden, heraus­zu­fin­den, was der Dich­ter mit seiner Formu­lie­rung gemeint haben könnte? Im Verwal­tungs­all­tag zählen Fakten, keine Vermutungen.

Dass juris­ti­sche Denk­weise nicht den allge­mein gülti­gen Geset­zen der Logik folgt, ist gemein­hin bekannt. Juris­ten fördern damit die Skep­sis und Respekt­lo­sig­keit der Öffent­lich­keit gegen­über ihrem ehren­wer­ten Berufs­stand stets aufs Neue. 

Ein neuer Refe­rats­lei­ter (Jurist) stellt nach seinem Amts­an­tritt fest, dass die Bescheide seiner Mitar­bei­ter (Tech­ni­ker) sehr »schlicht« formu­liert sind. Um sie gerichts­fes­ter zu machen, unter­weist er seine Leute in der Anwen­dung »korrek­ter Juris­ten­spra­che« und korri­giert eine Zeit lang alle abge­hen­den Bescheide unter diesem Gesichtspunkt. 

Als »Erfolg« dieser Qualitäts­verbesserung ist nach eini­ger Zeit fest­zu­stel­len, dass die Zahl der verlo­re­nen Gerichts­ver­fah­ren ansteigt!

Was war passiert? Die »schlichte«, aber fakten­ori­en­tierte Spra­che der Bescheide nach alter Refe­rats­li­nie bot Anwäl­ten und Rich­tern keine Ansätze für fein­sin­nige Inter­pre­ta­tio­nen. Erst die in Juris­ten­deutsch ausfor­mu­lier­ten neuen Bescheide enthiel­ten genü­gend Angriffs­punkte und wurden deshalb von gegne­ri­schen Anwäl­ten und Rich­tern zerrupft. 

Meine These erfährt durch dieses Beispiel empi­ri­sche Bestä­ti­gung: Erst die Formulie­rung durch Juris­ten ermög­licht ande­ren Juris­ten die Verge­wal­ti­gung eines Sachverhalts.

Ein Kurs­teil­neh­mer erklärte in der Vorstel­lungs­runde, dass er ein neues Arbeits­ge­biet habe und von seinem Vorge­setz­ten in den Kurs »Bürger­nahe Spra­che« geschickt worden sei, weil sein Schreib­stil dem Vorge­setz­ten nicht »amtlich genug« erschien.

Meinen nicht völlig unernst gemein­ten Vorschlag, er solle zurück an seinen Arbeits­platz gehen und seinen Chef in den Kurs schi­cken, lehnte er ab, erbat aber ein zwei­tes Semi­nar­skript für den Vorgesetzten.