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Amtssprache: Ursachen

Technokratie

Die tech­ni­schen Verfah­ren in Behör­den sind immer kritik­wür­dig. Auch die Compu­ter­tech­nik hilft da nichts, im Gegen­teil, sie »verschlimm­bes­sert« den Büro­kra­tis­mus häufig noch.

Ab dem 01.07.2002 werden auch in Berlin 10-stel­lige Steu­er­num­mern einge­führt, indem die beiden letz­ten Stel­len der Finanz­amts­num­mer der bishe­ri­gen Steu­er­num­mer voran­ge­stellt werden. Sie werden beim oben bezeich­ne­ten2 Finanz­amt unter der oben ange­ge­be­nen2 Steu­er­num­mer1 geführt. Die neue Steu­er­num­mer ist ab dem 01.07.2002 bei allen Einzah­lun­gen an die Finanz­kasse neben dem Verwen­dungs­zweck (Steu­er­art, Zeit­raum und Betrag3) und beim sons­ti­gen4 Schrift­ver­kehr mit dem Finanz­amt zu verwen­den. Sofern5 Sie zur Abgabe der Steu­er­erklä­rung verpflich­tet sind und der dafür zu verwen­dende Vordruck weni­ger Stel­len in dem Feld für die Angabe der Steu­er­num­mer vorsieht, bitte ich, dennoch die voll­stän­dige Steu­er­num­mer einzu­tra­gen6 (ggf. klei­nere Schrift verwen­den, Nicht­be­ach­tung der Raster).

aus einem Steuerbescheid

Dieser kurze Absatz enthält ein buntes Gemisch aus Unzu­läng­lich­kei­ten der Verwaltungsbescheide:

  1. Die Nummern werden nur indi­rekt durch Quer­ver­weise erwähnt, anstatt sie einfach als Varia­ble in den Text zu mischen.
  2. »Oben bezeich­net« und »oben genannt« kurz hinter­ein­an­der in einem Satz ist typi­scher schlech­ter Behör­den­stil zum Quadrat.
  3. »Betrag« ist kein Verwen­dungs­zweck, gehört also nicht in diese Aufzählung.
  4. Wieso »sons­ti­gen Schrift­ver­kehr«? Zahlun­gen sind kein Schrift­ver­kehr, deshalb ist »sons­ti­gen« hier fehl am Platz.
  5. »Sofern Sie …« ist eine Even­tu­al­klau­sel, deren Inter­pre­ta­tion in die Entschei­dung des Empfän­gers gelegt wird, anstatt anhand der Akten­lage konkret anzu­ge­ben, ob diese Klau­sel im vorlie­gen­den Fall gilt oder nicht. (Hierzu gibt es einen Beitrag auf der Seite Seman­tik.)
  6. Bei der Verfah­rens­ent­wick­lung hat aber niemand daran gedacht, auch die Vordru­cke entspre­chend zu ändern. Statt­des­sen bürdet man nun den Bürgern auf, diese Unter­las­sung nachzubessern.

Beson­ders schön gera­ten tech­ni­sche Unter­stüt­zun­gen, wenn sie ohne Plau­si­bi­li­täts­prü­fun­gen daher­kom­men, wie zum Beispiel dieser Auszug aus einem Steuerbescheid:

Es ist kein Ausnah­me­fall, dass bei der Abrech­nung alle Beträge auf Null stehen. Im Gegen­teil: Wegen einer ande­ren tech­nokratischen Unge­nau­ig­keit im Steu­er­be­scheid­ver­fah­ren müssen immer wie­der Bürger Einspruch gegen die unbe­grün­dete Fest­set­zung von Voraus­zah­lun­gen ein­le­gen, worauf dann ein Bescheid mit dieser Null-Abrech­nung ergeht. 

Nur maxi­mal drei zusätz­li­che Coding-Zeilen würden ausrei­chen, um anstelle der unsin­ni­gen Tabelle diesen Satz ausdrucken:

Für 1995 sind keine Voraus­zah­lun­gen auf die Einkom­men­steuer, Solidari­tätszu­schlag zur Einkom­men­steuer und Kirchen­steuer (evan­ge­lisch) zu entrichten.

Aktua­li­sie­rung

Nun denken Sie aber bitte nicht ange­sichts der Jahres­zahl, das sei inzwi­schen über­holt. 20 Jahre später hat sich zwar die Aufma­chung geän­dert, die Null­num­mer ist aber dieselbe geblieben:

Aber es wird noch besser: Anschlie­ßend werden dem Empfän­ger auch noch Repres­sa­lien ange­droht, falls er nicht frist­ge­recht zahlt! Doch das gehört zu einem ande­ren Thema, der galop­pie­ren­den Text­bau­ste­ini­tis.

Text­bau­stein­ver­fah­ren sind zwar ein Phäno­men der fort­ge­schrit­te­nen Tech­nik, doch ist der Verur­sa­cher von Baustein­pro­ble­men nicht auf der Entwick­ler­seite zu suchen. Viel­mehr nutzen manche Dienst­kräfte ihre Text­hand­bü­cher exzes­siv und bemü­hen sich, ganze Bescheide ausschließ­lich aus Baustei­nen ohne Indi­vi­du­al­text zu erstel­len.
Gewiss, das ist das eigent­li­che Ziel von Text­bau­stein­ver­fah­ren, doch sie sind nicht dazu gedacht, immer und in jedem Fall ausschließ­lich ange­wandt zu werden. Dort wo es ange­bracht ist, muss auch Frei­text verwen­det werden.

Ich weise darauf hin, dass, sofern Sie bisher einen Steu­er­frei­be­trag in Anspruch genom­men haben, dieser künf­tig entspre­chend dem fest­ge­stell­ten GdB abge­senkt wird.

Ich mache Sie darauf aufmerk­sam, dass künf­tig die Voraus­set­zung für die unent­gelt­li­che Beför­de­rung einer Begleit­per­son bei der Benut­zung öffent­li­cher Verkehrs­mit­tel entfällt.

Ich mache Sie darauf aufmerk­sam, dass künf­tig die Voraus­set­zun­gen für den Erhalt der kosten­lo­sen Wert­marke zur unent­gelt­li­chen Beför­de­rung im öffent­li­chen Nahver­kehr bzw. für die Gewäh­rung einer Kfz-Steu­er­ermä­ßi­gung nicht mehr erfüllt sind.

Die Voraus­set­zung für die Inan­spruch­nahme der Kfz-Steu­er­ver­güns­ti­gung ist nicht mehr gegeben.

Aus einem Bescheid des Versor­gungs­am­tes Berlin

Vier Neben­wir­kun­gen eines Beschei­des, auf die hinge­wie­sen wird, davon zwei mit iden­ti­scher, eine mit ähnlich klin­gen­der Einlei­tungs­klau­sel – damit wird der vorge­spielte »Indi­vi­dual­cha­rak­ter« eines aus Text­bau­stei­nen zusam­men­ge­setz­ten Brie­fes ad absur­dum geführt. Es wäre sinn­vol­ler gewe­sen, die Einzel­sätze in einer struk­tu­rier­ten Aufzäh­lung zusammenzufassen:

Ich weise darauf hin, dass künftig

  • ein evtl. bisher in Anspruch genom­me­ner Steu­er­frei­be­trag entspre­chend dem festge-stell­ten GdB abge­senkt wird,
  • die Voraus­set­zung für die unent­gelt­li­che Beför­de­rung einer Begleit­per­son bei der Benut­zung öffent­li­cher Verkehrs­mit­tel entfal­len wird,
  • die Voraus­set­zun­gen für den Erhalt der kosten­lo­sen Wert­marke zur unent­gelt­li­chen Beför­de­rung im öffent­li­chen Nahver­kehr bzw. für die Gewäh­rung einer Kfz-Steu­er­ermä­ßi­gung nicht mehr erfüllt sein werden und
  • die Voraus­set­zung für die Inan­spruch­nahme der Kfz-Steu­er­ver­güns­ti­gung nicht mehr gege­ben sein wird.

Hier sind alle zu erwar­ten­den Ände­run­gen über­sicht­lich und ohne Wieder­ho­lun­gen zusam­men­ge­fasst. Der Satz ist zwar lang, aber durch seine struk­tu­rierte Darstel­lung leicht verständlich.

Zuge­ge­ben, Frei­text kann mehr Arbeits­auf­wand kosten als das Aufruf­ru­fen von Text­bau­stei­nen. Immer­hin sind Text­bau­stein­ver­fah­ren ja gerade zur Ratio­na­li­sie­rung so genann­ter »Kiepen­ar­beit« geschaf­fen worden. Doch das muss nicht zu solch extre­mer Nutzung der Text­vor­ga­ben führen.

Empfän­ger erken­nen plump zusam­men­ge­bas­telte Textbausteine!

In diesem Zusam­men­hang darf natür­lich nicht uner­wähnt blei­ben, dass solche auffäl­li­gen Text­bau­stein­kom­bi­na­tion auch auf eine schlecht durch­dachte Struk­tur des Text­hand­buchs schlie­ßen lassen. Bei »guten« Text­hand­bü­chern werden solche Stol­per­stel­len bereits in der Entwick­lung bedacht. Nicht alles kann von vorn­her­ein berück­sich­tigt werden, aber wenn sich zur Lauf­zeit eines Verfah­rens solche syste­ma­ti­schen Mängel zeigen, ist es Führungs­auf­gabe, das Verfah­ren zu über­prü­fen und anzu­pas­sen. Die über­wie­gende Zahl der in der Berli­ner Verwal­tung ange-wand­ten IT-Verfah­ren wird nach ihrer Einfüh­rung so gut wie keiner Evalu­ie­rung unterzogen!

Fazit: Nicht immer sind Text­bau­steine das probate Mittel.

Empfeh­lung: Prüfen Sie Ihre Text­bau­steine regel­mä­ßig auch auf syntak­ti­sche Verbesserungsmöglichkeiten.